Der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz hat durch Beschluss vom 4. Dezember 2017 über die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den Beschluss des Landgerichts Koblenz vom 29. Mai 2017 über die Einstellung des Verfahrens gegen mutmaßliche Mitglieder des Aktionsbüros Mittelrhein sowie die durch einen Teil der Angeklagten eingelegten sofortigen Beschwerden entschieden.
Gegenstand des Verfahrens sind Straftaten, die im Zusammenhang mit der Gründung und weiteren Aktivitäten des sog. „Aktionsbüros Mittelrhein“ von Mitgliedern und Unterstützern dieser Organisation begangen worden sein sollen. Am 14. Juni 2012 erhob die Staatsanwaltschaft gegen ursprünglich insgesamt 26 Beschuldigte Anklage zur Staatsschutzkammer des Landgerichts Koblenz. Den Angeklagten werden Gründung einer bzw. mitgliedschaftliche Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung gemäß § 129 StGB und eine Vielzahl weiterer Straftaten zur Last gelegt. Durch Beschluss vom 6. August 2012 ließ die Strafkammer die Anklage im Wesentlichen zu und eröffnete das Hauptverfahren gegen die Angeklagten. Die Hauptverhandlung begann am 20. August 2012; sie dauerte bis zum 5. April 2017 an, wobei an 337 Tagen verhandelt wurde.
Am 2. Mai 2017 setzte die Kammer die Hauptverhandlung im Hinblick auf das mit Ablauf des Monats Juni 2017 bevorstehende Ausscheiden des Vorsitzenden Richters wegen Erreichens der gesetzlichen Altersgrenze aus. Die Strafkammer hielt es nicht mehr für möglich, das Verfahren bis zum Ausscheiden des Vorsitzenden Richters durch ein erstinstanzliches Urteil abzuschließen. Mit Beschluss vom 29. Mai 2017 hat die Strafkammer das Verfahren eingestellt, hinsichtlich zweier Angeklagter bestimmt, dass diese für den Vollzug der Untersuchungshaft zu entschädigen seien und dass die Staatskasse deren notwendige Auslagen zu tragen habe, und im Übrigen angeordnet, dass eine Entschädigung oder Auslagenerstattung nicht zu gewähren sei. Die Strafkammer hat dabei die Auffassung vertreten, dass wegen überlanger Dauer des Verfahrens ein Verfahrenshindernis gegeben sei. Die bereits in Anspruch genommene und nach Aussetzung des Verfahrens noch zu erwartende weitere Verfahrensdauer sowie die damit einhergegangenen oder noch zu erwartenden Belastungen für die Angeklagten einschließlich von ihnen erlittener Untersuchungshaft stünden in einem „deutlichen“ Missverhältnis zu den noch zu erwartenden Strafen.
Gegen die Einstellung des Verfahrens hat sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer sofortigen Beschwerde gewendet. Parallel haben, soweit ihnen eine Entschädigung für erlittene Strafverfolgungsmaßnahmen versagt worden ist und die Strafkammer davon abgesehen hat, ihre notwendigen Auslagen der Staatskasse aufzuerlegen, die meisten der Angeklagten sofortige Beschwerde eingelegt.
Durch seinen Beschluss vom 4. Dezember 2017 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz den Beschluss der Staatsschutzkammer des Landgerichts Koblenz vom 29. Mai 2017 zu Ziffer I. (Einstellung des Verfahrens wegen überlanger Verfahrensdauer) aufgehoben. Das landgerichtliche Verfahren sei fortzusetzen. Die sofortigen Beschwerden der Angeklagten seien erledigt. Zur Begründung hat der Senat unter anderem ausgeführt:
Die zulässige sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft habe auch in der Sache den erstrebten Erfolg. Durch die bisherige Dauer des Strafverfahrens sei ein Verfahrenshindernis wegen überlanger Dauer des Prozesses nicht entstanden.
Das Verfahren sei prozessordnungsgemäß durchgeführt und angemessen beschleunigt worden. Dass es bislang nicht zu einem Abschluss habe gebracht werden konnte, finde seine Ursache nicht in den Justizbehörden zurechenbaren Verzögerungen, sondern allein in Umfang und Komplexität des Verfahrensgegenstands sowie den gesetzlichen Vorgaben der Strafprozessordnung und des Landesrichtergesetzes.
Der äußere Ablauf des Verfahrens lasse vermeidbare, das Rechtsstaatsgebot berührende Verzögerungen in der Sachbearbeitung nicht erkennen. Soweit die in der Hauptverhandlung zur Entscheidung des Gerichts gestellte Vielzahl von Anträgen - nach Darstellung der Kammer mehr als 500 Befangenheitsanträge, mehr als 240 Beweisanträge, mehr als 400 Anträge zum Verfahrensablauf und mehr als 50 Gegenvorstellungen - zu einer Hemmung des Verfahrensfortgangs beigetragen hätten, sei daraus eine rechtsstaatswidrige Verzögerung nicht abzuleiten. Denn bei der Bewertung, ob eine solche eingetreten sei, fänden Verzögerungen, die der Beschuldigte selbst verursacht habe, keine Berücksichtigung, gleichgültig ob die Verzögerungen auf zulässiges oder unzulässiges Prozessverhalten zurückzuführen seien. Eine Möglichkeit, die Stellung von Anträgen angesichts ihrer Vielzahl zu beschränken, habe für die Kammer nicht bestanden. Die Verfahrensordnung räume es den Angeklagten aus Gründen der Waffengleichheit und wegen des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK) ein, durch Anträge, Anregungen und Stellungnahmen auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen. Ihre Verteidiger seien nicht daran gehindert, diese strafprozessualen Rechte besonders häufig oder in großem Umfang in Anspruch zu nehmen, da die anwaltliche Berufsausübung grundsätzlich der freien und unreglementierten Selbstbestimmung des Einzelnen unterliege.
Dem Gericht zurechenbar würden die antragsursächlichen Verzögerungen auch nicht dadurch, dass die Kammer selbst Anträge mit unverständlichen und unsachlichen Inhalten oder solche, die ihrer Auffassung nach offensichtlich zum Zweck der Prozessverschleppung gestellt worden seien, zur Sachentscheidung entgegengenommen und nicht sofort verworfen habe. Das Gericht sei grundsätzlich verpflichtet, über Anträge, Anregungen und sonstige Eingaben unabhängig von Inhalt und Wortlaut nach Maßgabe der Vorschriften des Verfahrensrechts zu entscheiden. Das setze grundsätzlich eine förmliche Beratung voraus und ziehe eine nachvollziehbare Begründung der Entscheidung nach sich. Selbst bei auf den ersten Blick unsachlichen oder unzulässigen Anträgen sei zunächst durch Auslegung zu ermitteln, ob dem Ansinnen nicht eine rechtlich anerkennenswerte oder den Verfahrensgegenstand betreffende Bedeutung zugemessen werden könne. Da sich ein Angeklagter zu seiner Verteidigung nach der sehr weitgehenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch unsachlicher Äußerungen bzw. scharfer, polemischer, überspitzter oder ironischer Formulierungen bedienen dürfe, müssten auch Eingaben mit solchen Inhalten entgegengenommen, auf ihren sachlichen Gehalt untersucht und beschieden werden. Eine Zurückweisung von Anträgen wegen Prozessverschleppung sei nur in Ausnahmefällen möglich und zulässig.
Nicht zu verantworten habe das Gericht auch Verfahrensverzögerungen, die durch ungehöriges Verhalten von Verteidigern entstanden seien, wie zum Beispiel das in der angefochtenen Entscheidung genannte Besteigen eines Tisches durch einen Verteidiger mit dem Zweck, sich verbal zu äußern. Im „Kampf um das Recht“ sei dem Verteidiger nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nicht nur die Benutzung starker, eindringlicher Ausdrücke und sinnfälliger Schlagworte, sondern auch ein Verhalten erlaubt, das von den anderen Verfahrensbeteiligten als stilwidrig, ungehörig oder als Verstoß gegen den „guten Ton“ und das Takt- und Anstandsgefühl empfunden werde.
Das Zugeständnis nahezu unbeschränkter Verteidigerrechte beinhalte stets das Risiko eines Scheiterns des Strafprozesses. Die Strafjustiz müsse selbst dann an ihre Grenzen stoßen, wenn die Verteidigung formal korrekt und im Rahmen des Standesrechts geführt werde, sich aber dem traditionellen Ziel des Strafprozesses, der Wahrheitsfindung in einem prozessordnungsgemäßen Verfahren, nicht mehr verpflichtet fühle, sondern die durch die Strafprozessordnung gewährleisteten Verfahrensrechte in einer Weise nutze, die mit der Wahrnehmung ihrer Aufgabe, den Angeklagten vor einem materiellen Fehlurteil oder prozessordnungswidrigem Verfahren zu schützen, nicht mehr zu erklären sei.
Allein der durch die Ausführung bestimmter Verfahrensvorschriften verursachte Zeitaufwand könne schon begrifflich nicht zu einer die Einstellung rechtfertigenden rechtsstaatswidrigen Verzögerung beigetragen haben. Denn die Bindung des Gerichts an das Gesetz gehöre zum Kernbereich des Rechtsstaatsgebots, so dass die Befolgung gesetzlicher Vorschriften, auch wenn sie sich im Einzelfall verfahrensverzögernd auswirke, das Gebot nicht verletzen könne.
Ein den Justizbehörden anzulastender Umstand sei auch nicht darin zu sehen, dass im Laufe der Hauptverhandlung zwei berufsrichterliche Mitglieder der Kammer wegen Erreichens der gesetzlichen Altersgrenze ausgeschieden seien und der Spruchkörper schließlich entscheidungsunfähig geworden sei. Gemäß den Vorgaben des Landesrichtergesetzes träten Richterinnen und Richter auf Lebenszeit mit dem Ende des Monats in den Ruhestand, in dem sie die für sie geltende Altersgrenze erreichen; der Eintritt in den Ruhestand könne nicht hinausgeschoben werden. An diese Vorgabe des Gesetzgebers seien Justizverwaltung und Rechtsprechung gemäß Art. 20 Abs. 3 GG gebunden. Die Aussetzung des Verfahrens sei Folge dieser Gesetzesbindung und könne damit für sich betrachtet keinen Verstoß gegen das Rechtsstaatsgebot darstellen.
Die Belastungen der Angeklagten, die daraus resultieren, dass sie grundsätzlich verpflichtet seien, an einer langandauernden, eine Vielzahl von Sitzungstagen in Anspruch nehmenden Hauptverhandlung teilzunehmen, seien ebenfalls nicht geeignet, ein Verfahrenshindernis zu begründen. Die bisherige Dauer des Verfahrens sei maßgeblich durch das Verhalten ihrer Verteidiger verursacht worden, so dass die daraus resultierenden Belastungen von den Angeklagten hinzunehmen seien.
Dass es zu einem Verfahren mit nicht absehbarem Ende kommen werde, sei durch die Vorschriften über die Verfolgungsverjährung ausgeschlossen. Die Verfolgung der angeklagten Taten sei ungeachtet zwischenzeitlich erfolgter Unterbrechungen dann nicht mehr zulässig, wenn die jeweiligen Zeitpunkte der doppelten Verjährung einträten, woraus sich ein überdauerndes Verfahrenshindernis ergäbe.
Der Prozess sei nach alledem vor der Staatsschutzkammer des Landgerichts Koblenz fortzuführen. Eine Entscheidung über die sofortigen Beschwerden der Angeklagten sei deshalb nicht veranlasst.