Das Oberlandesgericht Koblenz hat in zwei Verfahren über die Fortdauer der Unterbringung von zwei 58 Jahre und 60 Jahre alten Männern zu entscheiden, die sich im Vollzug der Sicherungsverwahrung in der Justizvollzugsanstalt Diez befinden. Der 1. Strafsenat und der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz haben die Verfahren dem Bundesgerichtshof vorgelegt, weil es der abschließenden Klärung bedarf, ob die Untergebrachten aufgrund eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – trotz der nach Auffassung der Strafsenate fortbestehenden Gefährlichkeit der Untergebrachten freizulassen sind.
Hinsichtlich des 60 Jahre alten, vielfach vorbestraften Untergebrachten ordnete das Landgericht Mainz im Jahre 1988 neben einer langjährigen Freiheitsstrafe, die unter anderem wegen Vergewaltigung verhängt wurde, die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung an und erhielt diese Anordnung in einem weiteren Urteil aus dem Jahre 1996, das erneut unter anderem Vergewaltigungen zum Gegenstand hatte, aufrecht. Zu diesem Zeitpunkt war die Dauer der erstmals angeordneten Sicherungsverwahrung selbst bei Fortbestehen der Gefährlichkeit des Untergebrachten gesetzlich auf zehn Jahre begrenzt. Diese zeitliche Höchstgrenze ist erst durch die spätere Neufassung des § 67 d StGB im Jahre 1998 weggefallen. Seitdem wird die Sicherungsverwahrung auch über die Zeitdauer von zehn Jahren hinaus vollzogen, wenn die Gefahr besteht, dass der Untergebrachte auch weiterhin erhebliche Straftaten begehen wird.
Die Sicherungsverwahrung hinsichtlich dieses Untergebrachten wird seit Januar 1999 vollzogen. Die Fortdauer der Unterbringung ist durch die sachverständig beratene Strafvollstreckungskammer im Hinblick auf die ungünstige Gefährlichkeitsprognose des Untergebrachten zuletzt im September 2009 angeordnet worden.
Durch Urteil vom 17. Dezember 2009 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg in einem gleichgelagerten Fall, in dem die Anordnung der Sicherungsverwahrung ebenfalls zeitlich vor dem Inkrafttreten der Neufassung des § 67 d Abs. 3 StGB lag, die Fortdauer der Unterbringung über zehn Jahre hinaus als Verstoß gegen die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) angesehen. Das Urteil ist seit dem 10. Mai 2010 rechtskräftig.
Im Hinblick auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hat die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Koblenz in Diez auf Anregung der Staatsanwaltschaft erneut die weitere Vollstreckung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung überprüft. Durch Beschluss vom 20. Juli 2010 hat sie die Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung wegen des vorgenannten Urteils für erledigt erklärt. Gegen diesen Beschluss hat die Staatsanwaltschaft sofortige Beschwerde eingelegt. Der zuständige 2. Strafsenat möchte der Beschwerde stattgeben und den angefochtenen Beschluss der Strafvollstreckungskammer aufheben. Im Hinblick darauf, dass andere Oberlandesgerichte die Rechtslage abweichend beurteilen, hat der Senat durch Beschluss vom 1. September 2010 das Verfahren dem Bundesgerichtshof vorgelegt (Aktenzeichen: 2 Ws 370/10).
Hinsichtlich des 58 Jahre alten, mehrfach vorbestraften Untergebrachten ordnete das Landgericht Zweibrücken im Jahre 1984 neben einer langjährigen Freiheitsstrafe, die unter anderem wegen Vergewaltigung verhängt wurde, die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung an. Die Sicherungsverwahrung wird seit September 1990 mithin seit 20 Jahren vollzogen. Die sachverständig beratene Strafvollstreckungskammer ordnete zuletzt im Februar 2010 die Fortdauer der Unterbringung an, weil weiterhin konkrete Anhaltspunkte für eine fortdauernde Gefährlichkeit des Untergebrachten bestünden. Gegen diese Entscheidung hat der Untergebrachte sofortige Beschwerde eingelegt. Der zuständige 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz hat den Untergebrachten im Beschwerdeverfahren erneut psychiatrisch begutachten lassen. Der Senat beabsichtigt, die Beschwerde des Untergebrachten im Hinblick auf seine fortbestehende negative Kriminalprognose als unbegründet zu verwerfen. Auch der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz hat das Verfahren durch Beschluss vom 30. September 2010 dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung vorgelegt (Aktenzeichen: 1 Ws 108/10).
Sowohl der 1. Strafsenat als auch der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz sind der Auffassung, dass die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nicht allein aufgrund der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember 2009 für erledigt erklärt werden kann. Zwar folge aus Art. 1 EMRK eine Verpflichtung des verurteilten Mitgliedstaats, eine durch den Gerichtshof festgestellte Konventionsverletzung auch in Parallelfällen zu beenden. Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte könnten die Gerichte jedoch nur insoweit beachten, als dies innerhalb der bestehenden Rechtsordnung im Wege einer methodisch vertretbaren Gesetzesauslegung möglich ist. Eine dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entsprechende Umsetzung dahingehend, dass in den Fällen einer erstmalig angeordneten Sicherungsverwahrung, in denen Anlasstat und Urteil zeitlich vor dem 31. Januar 1998 liegen („Altfälle“), eine Höchstdauer der Unterbringung von zehn Jahren gilt und nach deren Ablauf die Maßnahme für erledigt zu erklären ist, könne durch Auslegung der gegebenen Gesetzeslage nicht erreicht werden. Eine Umsetzung des Urteils in das innerstaatliche Recht müsse deshalb dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben.
Dies haben die Strafsenate des Oberlandesgerichts in den vergangenen Monaten bereits wiederholt entschieden, unter anderem durch Beschluss des 1. Strafsenats vom 7. Juni 2010 betreffend den 58 Jahre alten Untergebrachten (Aktenzeichen. 1 Ws 108/10). Zu diesem Beschluss hat die Medienstelle des Oberlandesgerichts Koblenz am 9. Juni 2010 eine Pressemitteilung veröffentlicht (www.mjv.rlp.de – Aktuelles).
Die Frage, ob die – wie hier nach altem Recht in der Sicherungsverwahrung untergebrachten Personen im Hinblick auf die Grundsatzentscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auf freien Fuß zu setzen sind, wird in der Rechtsprechung der verschiedenen Oberlandesgerichte unterschiedlich beurteilt. Der 1. Strafsenat und der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz haben deshalb von der durch den Gesetzgeber neu geschaffenen Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Verfahren dem Bundesgerichtshof zur abschließenden Klärung der Rechtsfrage vorzulegen.
Die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Koblenz vom 1. September 2010 (2 Ws 370/10) sowie vom 7. Juni 2010 und vom 30. September 2010 (1 Ws 108/10) sind unter www.mjv.rlp.de (Rechtsprechung) veröffentlicht.
Zusatzinformation:
§ 121 Abs. 2 Nr. 3 des Gerichtsverfassungsgesetzes lautet wie folgt:
Will ein Oberlandesgericht bei seiner Entscheidung nach Abs. 1 Nr. 2 (Anmerkung der Medienstelle: Beschwerde gegen strafrichterliche Entscheidungen, soweit nicht die Zuständigkeit der Strafkammern oder des Bundesgerichtshofs begründet ist) über die Erledigung einer Maßregel der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung oder in einem psychiatrischen Krankenhaus oder über die Zulässigkeit ihrer weiteren Vollstreckung von einer nach dem 1. Januar 2010 ergangenen Entscheidung eines anderen Oberlandesgerichtes oder von einer Entscheidung des Bundesgerichtshofes abweichen, so hat es die Sache dem Bundesgerichtshof vorzulegen.
Die Vorschrift ist seit dem 30. Juli 2010 in Kraft.